Zeitreise in die 2000er: Ein überraschender Besuch der kanadischen NASCAR-Serie

Zeitreise in die 2000er: Ein überraschender Besuch der kanadischen NASCAR-Serie
Credits: Alex Kühnemund

Als Alex Kühnemund 18 Jahre alt war, ging es für ein Praktikum nach Kanada – Plötzlich fand sich der Bochumer auf der Tribüne eines kanadischen NASCAR-Rennens wieder – Auf ‘Leadlap.de’ teilt er 20 Jahre danach exklusiv sein Erlebnis

Wenn wir Motorsportfans in Deutschland uns über die schönste Nebensache der Welt unterhalten und dabei einen Blick über den großen Teich werfen, dann werden schnell die einschlägig bekannten Rennserien wie NASCAR, IndyCar, IMSA oder vielleicht noch die ARCAR-Series genannt, aber dann hört es bei den Meisten auch schon auf.

Doch Hand aufs Herz, wer hat denn schon mal was von der Canadian Association for Stock Car Auto Racing oder kurz CASCAR gehört? Ok, heute heißt die Serie NASCAR Pinty´s Series und ist in etwa vergleichbar mit der EuroNascar. Aber die Zahl derer, welche jetzt ganz laut „hier“ schreien, dürfte so überschaubar sein, dass man sie bequem in Bochums kleinste Kneipe setzen könnte, ohne in große Platznot zu geraten.

In diesem Beitrag möchte ich mit den Lesern eine kleine Zeitreise machen, um es genau zu sagen in das Jahr 2000.

Credits: Alex Kühnemund

Im Frühjahr des besagten Jahres, genauer gesagt Anfang Februar, war uns allen klar, der befürchtete Knall zum Jahrtausendwechsel war die reinste Enttäuschung, der VfL Bochum schickte sich an, den Wiederaufstieg in die Bundesliga zu schaffen und ich war zu diesem Zeitpunkt frisch gebackener NASCAR-Fan und brachte mit Nascar 98 und Nascar 99 eine kleine graue Spielkonsole zum Glühen.

Es war auch die Zeit, in der ich mir längst einen landwirtschaftlichen Betrieb hätte suchen müssen, denn eigentlich stand das zweiwöchige Landwirtschaftspraktikum meiner so heiß geliebten Waldorfschule in nicht allzu weiter Ferne an.

Wie der Zufall es wollte, klingelte eines Abends das Telefon, dran war mein guter Schulkollege Ansgar. Er fragte mich, ob ich Lust hätte, mit ihm das Praktikum in Kanada zu machen. Ich habe nicht eine Sekunde gezögert! Und so saß ich Anfang April an Bord eines Jumbos der Air Canada mit Zielflughafen Toronto.

Von dort ging es weiter nach London, Ontario, wo wir dann im Empfang genommen wurden. Nach circa 35 Minuten Autofahrt erreichten wir unseren Zielort, die Sunnivue Farm – ja die wird wirklich so geschrieben – nahe dem 902 Seelen Dorf Ailsa Craig mitten im landwirtschaftlichen Nirgendwo von Ontario.

Credits: Alex Kühnemund

Eines morgens beim Frühstück schnappte ich mir den Sportteil der Zeitung, schließlich möchte man ja erfahren, was in Kanada so los ist. „Delaware action keeps´em coming back“ lautete die Überschrift und darunter war zu lesen „friday April 28th Cascar Sportsman, Pepsi Street Stock and Open Wheel Modified“.

Ich hielt die Anzeige dem Farmer – einem deutschen Auswanderer – unter die Nase und fragte, ob es möglich wäre, dahin zu fahren. Dieser zögerte nicht lange und gab zu verstehen, dass es kein Problem sei, denn die Rennstrecke lag nur gute 30 Minuten mit dem Auto entfernt, ein wenig östlich von London. Für kanadische Verhältnisse nun wirklich kein Aufwand!

Das Rennen sollte 8 p.m. starten und Einlass war zwei Stunden vorher. Der Weg führte über typische nordamerikanische Straßen, teils ohne Asphalt, und obwohl London mit seinen circa 380.000 Einwohnern recht „nah“ lag, so war die ländliche Idylle allgegenwärtig. Irgendwann sagte der Farmer, dass wir gleich da seien und er uns nach dem Rennen einsammeln würde.

Wie, wir sind gleich da? Hier ist doch nichts! Eine einsame „Fressbude“ – wie man im Ruhrvalley so schön sagt – und ein paar Scheinwerfer an hohen Masten. Auf den ersten Blick erinnerte es mich eher an diverse Kreisligaplätze in meiner Heimatstadt, aber nicht an eine Rennstrecke. Zumal der Schotterplatz davor – es handelte sich um den Parkplatz – noch nicht wirklich belebt war.

Credits: Alex Kühnemund

Etwas ungläubig standen wir auf jenem Parkplatz, aber spätestens als der erste V8 brüllte, stellten sich nicht nur unsere Nackenhaare auf, uns war auch bewusst, dass wir hier doch richtig sind. Am Kartenhäuschen kostete die Karte für den Sitzplatz „stolze“ elf kanadische Dollar, was zur damaligen Zeit etwa 14 D-Mark waren und wir durften endlich den Delaware Speedway Park betreten.

Vor uns senkte sich die circa 10.000 Zuschauer fassende Tribüne mit ihren schlichten Sitzbänken hinunter zur Rennstrecke, welche lediglich durch eine kleine Mauer und einen wohlwollenden Zaun von der Tribüne getrennt war. Der Delaware Speedway ist ein 0,5-Meilen-Oval mit zwölf Grad Banking und hat von oben betrachtet eine leichte Ähnlichkeit mit dem Darlington Raceway oder Gateway Speedway.

Hinter der sehr breiten Boxengasse reihten sich im Infield die Transporter der jeweiligen Rennteams aneinander. Von dem bekannten Anblick der typischen NASCAR-Hauler waren diese bis auf einen allerdings weit entfernt und es herrschte ein buntes Treiben im Fahrerlager. Das gelegentliche dröhnen eines V8-Motors ließ erahnen, wie laut es in etwa werden könnte!

Credits: Alex Kühnemund

Es herrschte freie Platzwahl und so suchten wir uns natürlich einen nahe der Start-Ziel-Linie. Von der gesamten Tribüne aus konnte man die Rennstrecke überblicken. Neben den zahlreichen Werbebanden der lokalen Unternehmer waren auch zahlreiche Flutlichtmasten zu sehen und die ganze Anlage, gesäumt von Bäumen, verschwand ein wenig im Frühlingsgrün von Ontario.

Langsam füllte sich die Tribüne, hier und da erblickte man Fanshirts der Nascar, es duftete nach dem üblichen Fritat und man wurde gelegentlich von einem einheimischen Motorsportfreund angesprochen.

Die Menschen in London, Ontario, mochten zwar dem Ruf des höflichen Kanadiers sehr gerecht werden, aber die Deutlichkeit ihrer Aussprache ließ gewaltig zu wünschen übrig, weshalb wir mit unserem dürftigen Schulenglisch ganz schnell an unsere Grenzen stießen.

Vor den eigentlichen Hauptrennen der Pepsi Street Stocks und CASCAR Sportsman gab es noch kurze Sprintrennen, in denen sich die Fahrer qualifizieren mussten. Hier bekam die so berühmte kanadische Höflichkeit ihre ersten Risse, denn gerade die Lokalmatadore machten deutlich, dass sie gerne an den Rennen teilnehmen wollten. Kaltverformungen und qualmende Reifen waren die Folge.

Credits: Alex Kühnemund

Die Sonne neigte sich nun immer mehr in den roten Abendhimmel, das Flutlicht gab sein wirklich Bestes, die Strecke zu beleuchten und so langsam wurde es scheinbar ernst, in der Boxengasse nahmen die Fahrzeuge der Pepsi Street Stocks Aufstellung.

Wir erhoben uns von der Tribüne, es wurde ein kleines Gebet gesprochen, zwei junge Damen – vermutlich von der örtlichen Schule – sangen die kanadische und amerikanische Hymne, tja und dann kam das worauf jeder Fan einfach wartet, es wurden die magischen Worte gesprochen: „GENTLEMEN START YOUR ENGINES!“

Dieser Moment, wenn 25 V8-Motoren zeitgleich angeschmissen werden, der brennt sich einem dermaßen in den Pelz, da bekomme ich heute – 22 Jahre danach – noch immer Gänsehaut! Das Pace-Car setzte sich in Bewegung und mit ihm das Starterfeld. Dieses bestand zwar überwiegend aus Fahrzeugen aus dem Hause Chevrolet, aber es waren auch Ford, Pontiac, Dodge und Oldsmobile dabei.

Bei den beiden Einführungsrunden konnten wir die bollernden Boliden noch einmal in „Ruhe“ betrachten, aber ich war so aus dem Häuschen, so gefesselt von der Gänsehaut, für einen Moment war die Welt ausgeblendet! Das Pace-Car bog in die Boxengasse, der Flagman wartete den passenden Moment ab und was dann folgte, war das, was jedes Stock-Car-Rennen auf einem Shorttrack-Oval ausmacht. Die grüne Flagge wird geschwenkt, „pedal to the metal“, Vollgas und der ganze Körper erzittert unter dem unfassbaren Sound der V8-Motoren.

Credits: Alex Kühnemund

Circa 30 Runden dauerte das Rennen der Pepsi-Street Stocks, es gab zahlreiche Führungswechsel und die Zweikämpfe, „doorhammer to doorhammer, bumper to bumper“, um es einmal mit den Worten von Bob Jenkins zu sagen. Es wurde sich einfach nichts geschenkt, was zur Folge hatte, dass es einige Macken, Dellen und Kaltverformungen gab.

Nach dem ersten Stockcar-Rennen, welches ich live erleben durfte, war ich völlig aus dem Häuschen und es verlangte nach einer Stärkung. Ich musste wohl ein breites Grinsen im Gesicht haben, denn die Dame vom Imbiss entgegnete mir mit einem fröhlichen „hey boy, you really enjoyed the race, eh?!”

Nach dem grandiosen Rennen folgte eine kleine Ernüchterung. Denn zu meinem Burger – es gab irgendwie nur Burger – wollte ich gerne eine Kostprobe der kanadischen Braukunst verköstigen. Schließlich war ich ja schon 18, sollte doch kein Problem darstellen, oder etwa doch? Es blieb dann letztlich doch bei Burger und Cola.

Nachdem die Pause vorüber war, ging es mit dem Hauptrennen weiter. Auf dem Programm standen 35 Runden CASCAR Sportsman Series. War die Tribüne bisher überschaubar mit Besuchern gefüllt, so kamen zu diesem Rennen doch einige Zuschauer hinzu, es wurde spürbar lebhaft und gelegentlich wurden den Fahrern lautstark aufmunternde Worte zugerufen.

Die Fahrzeuge der CASCAR – welche denen der NASCAR glichen – wirkten noch einmal etwas imposanter als die Rennwagen der Pepsi Street Stocks und vom Sound her, da lachte das junge Motorsportherz. Einige dieser Fahrzeuge waren auch wie die “Großen” aus dem Winston Cup lackiert.

Credits: Alex Kühnemund

So erblickte man zum einen die Startnummer 18 welche dem Interstate Batteries Pontiac von Bobby Labonte zum verwechseln ähnlich sah; nicht weit davon entfernt die Startnummer 33, Skoal Bandit von Ken Schrader und sogar die 00 von Buckshot Jones war zu sehen.

Das Feld setzte sich hinter dem Pace-Car in Bewegung. 25 mal dieser unfassbare Sound, der den Brustkorb erzittern lässt. Das Pace-Car bog abermals in die Boxengasse, die Tribüne erhob sich und unter dem Jubel der Fans donnerte das Feld beim Schwenken der grünen Flagge los.

Bis auf ein paar Nachzügler blieb das Feld dicht beisammen, was zur Folge hatte, dass auch hier Lackaustausch und Kaltverformungen nicht lange auf sich warten ließen. Gegen Rennende wurde dann der Umgangston auch etwas “direkter” – um es mal diplomatisch zu formulieren – und es sollte zu einem Zweikampf um den Sieg kommen, bei welchem der Lokalmatador Ron Sheridan aus London mit seiner Startnummer 52 die anwesenden Zuschauer noch einmal aus der Reserve locken konnte.

Runde 35, ausgangs der Gegengerade ging es in Turn 3, die Startnummer 20 Scott Lindsay lag in Front, Sheridan auf der Innenbahn mit breiter Schulter und ausgestreckten Ellenbogen, die Zuschauer standen auf ihren Plätzen, “turn four, Sheridan takes the lead” schallte es über die Lautsprecher, Sheridan war in Front und holte sich an diesem Abend – begleitet von lautem Jubel – den Rennsieg.

Credits: Alex Kühnemund

Schnell leerte sich die Tribüne, aber wir waren noch nicht so recht in Aufbruchstimmung, deshalb gingen wir hinunter zum Zaun und bemerkten, dass dort die Tür zur Strecke geöffnet war. Da sich auch niemand bewogen fühlte, uns aufzuhalten, gingen wir auf die Rennstrecke, einmal den mit Gummiabrieb gezeichneten Beton fühlen, einen Eindruck aus der Fahrerperspektive gewinnen, denn von hier unten sah die Tribüne imposanter aus als man es vermutet hätte.

Wir schlenderten durch die Boxengasse, schauten den Teams beim Reparieren der Fahrzeuge oder bei der Wartung der Motoren zu und wir bekamen hautnah einen Eindruck, wie es bei den kleinen Rennteams abläuft.

Was mich gerade beim Schreiben dieser Zeilen ein wenig ärgert, ist die Tatsache, dass wir damals bei jeder Gelegenheit eine vorlaute freche Klappe hatten, aber in diesem Moment war irgendwie nichts mit einem “can I have a picture”. Da waren wir wohl vor Staunen erstarrt, ja das wird’s gewesen sein!

Leider kam dann der Moment, an dem wir die Heimreise antreten mussten. Auf dem Parkplatz wartete dann auch schon der Farmer mit seinem Pickup. Da dieser sich bereit erklärt hatte, uns auch am folgenden Wochenende wieder zur Rennstrecke zu fahren, hatten wir das Vergnügen, zuerst die Midas Trucks – in etwa vergleichbar mit der NASCAR-Truck-Serie – in einem circa 30-Runden-Rennen und anschließend die CASCAR Sportsman in einem 100-Runden-Rennen zu bestaunen.

Credits: Alex Kühnemund

Nach diesen beiden fantastischen Erlebnissen wuchs in mir der Wunsch, einmal die “Großen” zu sehen, einmal ein Winston-Cup-Rennen live vor Ort erleben. Auch wenn es fast 20 Jahre dauern sollte, bis dieser Traum zur Realität wurde, ich habe ihn mir 2020 in Daytona erfüllt.

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Alex Kühnemund
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